Dieses längere Essay ist das erste Werk von Alice Miller, die sich in den 1970ern als Therapeutin zurückzog und als Autorin zu arbeiten begann. Sie berichtet von sonderbaren Menschen, nämlich Kindern. Für Laien (Konsumenten und Gräber) ist der Text sehr verständlich geschrieben.
Miller meint, dass Kinder für sich selbst "sein" wollen. Sie streben eine Selbsterfahrung an und wollen sowohl in Momenten der Wut als auch in der Harmonie bestehen, ohne die Sicherheit des Nestes zu riskieren. Sie brauchen diesen Freiraum, um zu ihrem Selbst zu gelangen, zu der Person, die sie wirklich sind. Eltern, die sich selbst als brüchig und unvollkommen empfinden, übertragen dies auf ihre Kinder und transformieren sie zu kleinen Liebesmaschinen. Sie reagieren dramatisch, wenn das Kind sich Trotz und Eigenheiten erlaubt und nicht am Seelenheil (vor allem) der Mutter "mitarbeitet". Ein kindlicher Freiraum kann nicht geduldet werden. Die Fürsorgenden sind sich in ihrem eigenen Selbst so unsicher, dass sie ihre eigenen Kinder einem unmerklichen Drill unterziehen und selbige somit von einem Erlangen ihres eigenen Selbst hindern.
Miller vertritt somit die These, dass sich persönliche Defizite vererben. Die (Ur-, Urur-) Großeltern stehen also in einer kausalen Beziehung zum Aufwachsen des Kindes. Das sogenannte begabte Kind ist ein fleißiges - es lernt schnell, was für den inneren Frieden der Mutter nötig ist, sei es Darmkontrolle, leise sein oder lesen. Das Kind wirkt artig und begabt, doch es ist eigentlich ein (wörtlich seelen- und selbst-loses) Werkzeug der schwachen Mutter für sich selbst.
Miller spricht in ihrem Drama nicht von aktiver, bewusster Erziehung, eher von einem schleichenden und sich-einschleifenden Prozess. Es sollte aber bemerkt werden, dass sie die aktionistischste aller Erziehungsformen, nämlich Schläge, rigoros ablehnt. Sie sieht eine gewaltsame Erziehung als Hauptgrund für Gewalttätigkeiten bei Erwachsenen gegen sich und andere. Werden die Eltern von Tim K. also des vielfachen Mordes angeklagt werden?
Die Idee einer Genealogie der unvollkommenen Seele wird sichtbar.
Außerdem wird überhaupt so ein Ding wie Seele in dem Unwort "Selbst" zumindest spürbar: Miller scheint wirklich zu glauben, dass die späteren Konsumenten authentische, endliche und zur Freiheit fähige Individuen sind! Ein nahezu unheimlicher Gedanke.
Miller ist freilich auch online.
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