10/14/2008

Ausbruch

Der Graben wird nun ein wenig ruhen, denn der Gräber rammt den Spaten in die Ferne.

Doch die Plattentektonik wird freilich weitermahlen. Dies sind einige der Produkte, die im Urlaub ihrer Verdauung harren werden:

Die Wohlgesinnten, Jonathan Littell
The Missing, Sarah Langan
Böse Geister, Fjodor Michailowitsch Dostojewski
Warlock, Oakley Hall

Zum Abschied gibt es eine der besten Bands der Welt, aber stromlos.


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10/13/2008

Neverwhere, Neil Gaiman

Ah, die komplette Umkuschelung durch das dicke U der Unterhaltung. Gaiman hat hier eigentlich nur ein Fernsehfilm-Projekt romanisiert. Wer das nicht kennt, darf sich gern nach Neverwhere flüchten.

Es geht um sehr bildhaften Eskapismus: der Protagonist fällt in London (wo sonst?) durch eine Lücke im Bürgersteig und stolpert nach London Below, das aus einer phantasmagorischen Tunnelwelt des Kulturechos vergangener Stadtbilder besteht. Da unten herrschen die Ratten und sprechen zu ihren Jüngern, es gibt Untiere und Kloakentrödelmarktschreier. Es gibt weniger Fäkalien als erwartet, aber viel Schlamm. Der gothic Karneval des history channel, quasi. Die normale Bevölkerung setzt sich dort mehr oder weniger aus Pennern zusammen, die an der Oberwelt wundersam ignoriert und ausgeblendet werden. Aber keine Angst, Gaiman macht keine Sozialkritik, denn die kuschelt nicht. So mag es der amerikanische Markt (und der Konsumgraben)! Schöne tiefe Fundamente, Dungeon-Erlebnisse und dazu ein bisschen Totschlag. Wie bei Ghostbusters gibt es auch Schlüsselmeister und (diverse) Torwächter und die Idee dahinter ist freilich das exhumieren weiterer Geheimnisse und Unterwelten.

Auf der Rückseite des Produkts wird Neverwhere von Tori Amos gelobt und da wundert man sich schon ein bisschen. American Gods ist aber besser. Sorry, Tori.

10/10/2008

Burn After Reading, Ethan & Joel Coen

Der Song, der den Trailer umspült, ist von Elbow. Gut zu wissen. Doch die Werbung misslingt inhaltlich: von diesem Film werden viele Konsumenten überrumpelt werden, denn er entbehrt der bequemen Genrekonventionen. Verhuschte Steuerberaterinnen finden hier keine Kabel-1-Comedy-Geruhsamkeit. Trotzdem werden sie sich vielleicht eine Karte kaufen. Also "funktioniert" die Werbung doch, hu?

Die Coens machen besondere Filme. Viel Lärm um Nichts? Ja, aber spaßiger Lärm! Es gibt Nasenbluten, schnelle Schüsse, einen Dildo und eine Axt. Das sind Zutaten für einen unvergesslichen Abend, auch wenn kein Chinamann auf den Teppich pisst. Vor allem ist es sehr schön, dass sich die Brüder nicht auf dem Oscarsegen vom genialen NCFOM ausruhten.

Der Hollywoodklüngel nervt hier nicht wirklich. Alle Beteiligten scheinen guten, derben Spaß an der Arbeit gehabt zu haben. Diese virtuelle peer group darf weitermachen und öfter einmal so ein Fest feiern wie BAR. Das Werk ist charmant, ohne einen klebrig umarmen zu wollen. Gracias.

Dolls, Takeshi Kitano

Puppen sind eine dankbare Metapher zur Darstellung wechselseitiger Subjekt/Objekt-Beziehungen, und so ist das auch hier. Wer zieht welche Fäden? Es geht freilich um der Liebe zartes Band, welches gleichzeitig Leine, Halteseil und Fessel sein kann. In drei verschiedenen Episoden (tragische junge Liebe, nicht stattgefundene Liebe, Fan vs. Popstar) wird die Verknüpfung menschlicher Seelen geschildert.

Die Bildwelt selbst ist nüchtern und unaufgeregt schön, der Film profitiert von den wohldosierten Schnitten. Das Auge verliert gegen Ende seine Funktion, wenn es in eine Schneelandschaft geht. In der Weiße gibt es nur Stille und nichts mehr zum Festhalten: auch die Liebe ist letztlich eine Geschichte, die nur in den Tod führen kann. Sehr schön.

10/06/2008

Brazil, Terry Gilliam

Wieder berauscht sich Gilliam an Unordnung. Zitiert werden unter anderem Brave New World und der normale Irrsinn moderner Bürokratie. Brazil schafft es dabei, typisch für eine in den 1980ern entstandene Dystopie zu sein ohne optisch unangenehm aufzufallen.

Die Übermetapher des heroischen Klempners ist tatsächlich maßgeblich für die moderne Zivilgesellschaft: stets gibt es Kräfte, denen man auch mit Krawatte hilflos ausgeliefert ist. Spezialwissen ist immer auch Macht. Jeder braucht Rohre, und wer die Rohre beherrscht, beherrscht jeden. So ist es nur logisch, dass der Protagonist am Ende gegen das System auflehnt, indem er einer Rohrpostanlage das deep throaten beibringt.

Aber leider ist Brazil auch hoffnungslos überladen. Durchschnittliche Regisseure hätten aus dem Stoff 17 Filme machen können.

Generation X: Tales for an Accelerated Culture, Douglas Coupland

Uh, ein Paradoxon: mit dumpfem Trara warf sich einst die Kulturkonsumindustrie vor fast zwanzig Jahren auf das Schlagwort 'Generation X'. Genau diese Sprungbewegung, diese übermächtige Infiltration von Lebenswelt und -gefühl durch Wirtschaft ist es, die der kleine Roman thematisiert. Generation X ist ein Begriff, der dabei Rebellion und Besiegtsein zugleich umfasst. Und Billy Idols Band hieß auch so. Verwirrend.

Vom literarischen her wird Coupland den Maximen der Slogans nicht gerecht, obwohl er mit ihnen kokettiert. Im Gegenteil: wenn es dem geneigten Leser gelingt, die unsägliche Überschrift auszublenden, dann bietet sich ein kluger, witziger und auch sehr schöner Text. Die drei Protagonisten sind mehr als Anführer der Beispielparade, es sind Charaktere die durchaus interessant zwischen Sitcom und Tiefe pendeln und das auch wissen.

Eine schöne letzte Szene hat der Roman auch, sogar beim zweiten Lesen. Es wird mit Blut getauft und mit mental geforderten Menschen gekuschelt. Es geht ins mythische Mexiko, in die Welt am Rand von Americorp, dem Ende allen Franchises entgegen. Dies ist hinsichtlich des Hauptthemas, der Endlich- und Erbarmungslosigkeit der durchkapitalisierten Welt, angemessen.

Coupland ist einer von den Guten; er ist einer von denen, die mit ihrem Debüt in etwas unangenehm zeitgeistiges (und somit profitables) hineinstolperten. Der Blick wandert jetzt ins Regal und sucht Kevin Smith.

Bullitt, Peter Yates

Die Verfolgungsjagd durch San Francisco überrascht. Auf einmal wird die Kamera ein lidlos zuckendes Auge und jedes Aufsetzen der Achse ist am Bauchnabel spürbar. Geschwindigkeit in San Francisco ist eh spannend, was auch Peter Bogdanovich wusste.

McQueen spielt nüchtern, humorlos und direkt. Spielt er sich selbst? Das Autofahren hat er auch selbst erledigt. Als ganzer Kerl kann er sogar rückwärts ohne Spiegel am Hang einparken.

Als Vorfahre des Actionfilms ist Bullitt allerdings überraschend explosionsarm. Egal, die Aura der schönsten und unvernünftigsten Autos der Welt (Ford Mustang und Dodge Charger) hält das Vehikel gut zusammen.

Wall-E, Andrew Stanton

Wirklich neu sind digital erarbeitete Animationsfilme ja nicht mehr. Warum wird dann nicht endlich einmal ein wirklich schlechter Film produziert? Wall-E ist großartig und hebt den Genre-Standard weiter an. Die erwartete optisch-akustische Drolligkeit wurde noch übertroffen. Die zu erzählende Geschichte ist mehrdimensionaler als gedacht und das Auftreten redender fetter Menschen wirft den hübschen Film noch einmal gut herum.

Zu den beiden Protagonisten: Panzerketten müssen nicht bedrohlich sein, doch sie sind das Zeichen einer älteren Generation von Maschinenwesen wie Wall-E. Die neue Sonde Eve schwebt - und sie strahlt hell wie ein iPod bzw. clone trooper. Das besondere sind die Augen, die ausdrucksstärksten Elemente des individuellen Antlitzes: Wall-E surrt obenrum und kleine Servos lassen ihn menscheln. Eve ist anders. Sie hat ein gestaltbares Pixeldisplay als Gesicht. Sie ist theoretisch nicht auf zwei Augen festgelegt und bleibt mimisch flexibel. Zum Glück sind die anderen Roboter auf dem Kolonieschiff weniger ätherisch.

Maschinen sind Menschen überlegen, denn sie können nicht fett werden. Fett ist in diesem Film auch drollig, aber auch müde, dumpf, behäbig und schwach. Auf die Humanoiden wartet also kein Maschinenkrieg sondern eine Schlacht gegen die ungebildeten, schlaffen, entschleunigenden (siehe Gravitation) Fetten und ihre verfleischlichten Leiber.

9/26/2008

Snow Crash, Neal Stephenson

Da sprühen die Funken. In einer einmal lässigen Geste kreuzt Stephenson pynchonesque massive Leichtigkeit mit Gibsons Cyberpunk-Maximen (halbwahre Kaufargumente auf der Rückseite). Es bietet sich ein erhabenes, detailliertes, auf Umwegen glaubwürdiges Bild der (um 1990) nahen Zukunft. Der Held heißt Hiro Protagonist (!) und ist sowohl ein Hacker, der im Metaverse (ein im Genre bekanntes dreidimensionales WWW) umhergaunert als auch mit Samuraischwertern umgehen kann. Das ist an Coolness kaum zu überbieten. Er trifft auf YT, die als Kurierfahrerin die Heiligkeit des Skateboards auf dem Highway demonstriert.

Stephenson wirft mit den fantastischen Ideen nur so um sich und ist kaum zu stoppen. Auf jeder Seite bieten sich abstruse und trotzdem merkwürdig glaubwürdige Panoramen. Die Geschichte ist wahrlich episch: es geht um die ersten Hacker und ihre Tontafeln in Sumer. Ja, Sumer. Snow Crash ist eine Ausarbeitung von kommunikationswissenschaftlichen Theorien und postuliert die grandiose Virulenz von Information durch Sprachen, Migration, Köpfe und Ideen: Wissen ist wie Herpes. Dabei ist der Roman keineswegs schwierige Lektüre. Unheimlich! Man muss es lesen, um es zu glauben.

Außer Wakizashis, gatling guns für die Aktentasche, Fernsehen, Wasserstoffbomben, KI-Bibliothekaren, Babylon, unscheinbaren US-Präsidenten und der Mafia als Franchise-Unternehmen spielt auch das sogenannte Floß eine Rolle: es ist eine schwimmende Stadt aus Pontons, Gerümpel, und dem Flugzeugträger Enterprise. Waterworld lässt grüßen. Da Snow Crash über 15 Jahre alt ist, hat Herr Costner diese Idee anscheinend gestohlen.

Deshalb macht man hier im Graben gern Platz für Géricault.

Tropic Thunder, Ben Stiller

Herr Stiller ist ein Problem, denn er ist so furchtbar harmlos. Dies ist auch das Problem von seinem Film - mit Krieg kann man eigentlich derber rumspaßen. Schade. Die Erwähnung von Drogen oder Flatulenz oder Landminen ist nicht wirklich revolutionär. Herr Stiller tut einfach alles für die gute Laune - die versprüht Tom Cruise im fat suit aber auf jeden Fall. Mit dramaturgisch angezogener Handbremse wird der Konsum einer Bulette im Brötchen nach dem Film gewährleistet, siehe Indy 4.

Mit Bill Murray wäre das nicht passiert. Was macht eigentlich der gereifte und scheinbar un-unterschätzbare Jim Carrey derzeit?

9/24/2008

12 Monkeys, Terry Gilliam

Es beginnt im Schnee. Sacht und fein ist die Welt. Ein reines Weiß durchzieht sie - und der Protagonist Bruce Willis muss sich durch einen mehrlagigen Schutzanzug davor schützen, denn diese Welt ist so ganz anders als die zugerümpelte unterirdische Bunkerwelt der Zukunft.

Vielleicht kann Zeit genauso unaufgeräumt sein wie Raum. Vielleicht kann eine Schlamperei im Vorher eine große Unordnung im Nachher bewirken. Vielleicht können die Knotenpunkte von den Kategorien Zeit und Raum ebenso durcheinander geraten - als Beispiel dürfte der wunderbar wahnsinnige Brad Pitt herhalten.

Es beginnt im Schnee und es endet am Flughafen - gebohnerte Böden, helles Licht, saubere Menschen. 12 Monkeys ist eine Ode ans "Draußen" und die Definition desselbigen. Endet es wirklich am Flughafen? Nein, es beginnt von vorn. Gilliam bietet durch diese Rümpelei eine größere Ordnung. Ein herrlicher Film.

Das Appartement, Billy Wilder

Wilder und das moderne Leben, schon wieder. Der Aufbau der Bühne erinnert an moderne Sitcom-Mechanismen. Und Jack Lemmon ist teilweise tatsächlich eine Art Chandler, der hier sein Appartement immer wieder kleinlaut für die Seitensprünge seiner Chefs zur Verfügung stellt.

Allerdings ist Das Appartement von einer gewissen traurigen Ernüchnerung durchzogen, die vor allem an Shirley MacLaines Rolle festzumachen ist. Als kleine Fahrstuhl-Mieze hat sie sich scheinbar mit ihrem Dasein als zweitklassige Geliebte abgefunden. Sie ist teil der Einrichtung, ein Möbel, das von den hohen Herren genauso ausgenutzt wird wie Lemmon. Ihr Selbstmordversuch ist nicht wirklich lustig. New York City ist ein kalter Ort voller steriler Bürokatakomben und Treppenhäusern.

Nein, Billy Wilder scheint kein reiner Komödienmensch zu sein, auch wenn er das bestreiten mag.

9/20/2008

The Departed, Martin Scorcese

The Departed ist ein langer Film, der viel Geld gekostet und eingebracht hat. Er wurde als Blockbuster konzipiert und erfüllte seine Rolle. Die Geschichte über zwei Spione, die jeweils bei der Polizei und bei der örtlichen Mafia eingeschleust werden und ihre wahren Identitäten verhüllen müssen ist spannend und nüchtern.

Aber es ist überhaupt nicht originell! Es ist alles von der 102ten Episode von South Park abgekupfert! In Lil Crime Stoppers werden die vier Jungs zu junior detectives und werden gezwungen, meth labs und Mafiosi hochgehen zu lassen. Und am Ende bekommt fast jeder, wie auch beim vorliegenden Scorcese-Werk, einen erfrischenden Kopfschuss. Außerdem arbeitet der tapfere Butters zwei Tage daran, eine Spermaprobe abzuliefern und es gibt eine Duschszene. Jagut, The Departed beinhaltet weniger Sperma aber dafür einen gutgelaunten Jack Nicholson (heil seiner Plautze), doch das täuscht über den dreisten Raub nicht hinweg. Wann wird die Welt begreifen, dass man sich nicht einfach am Mythenschatz von South Park bedienen darf?

Für jemanden, der hinterm Mond lebt, ist The Departed natürlich nicht nur unterhaltsam sondern auch originell.

Dermaphoria, Craig Clevenger

Vieles im Konsumgraben verdient nicht mehr als einen Halbsatz als Kommentar und oft wird aus reinem Mitleid ein Text von mehreren Absätzen daraus. In diesem Fall hier kann aber gar nicht genug geschrieben werden, um die Erfreulichkeit der Lektüre von Dermaphoria zum Ausdruck zu bringen.

Endlich kommt hier einmal ein Autor, der die Themen Erinnerung, Wahrnehmung und (bio-) chemische (Re-/De-) Konstruktion der Wahrheit ernst nimmt und mit einer wuchtigen, eindringlichen und allegorischen Geschichte thematisiert. Kaufargumente auf der Rückseite des Produktes sind unter anderem Memento und McCarthy und, verdammt, das passt.

Clevenger befreit den Begriff der Paranoia aus dem Gefängnis der Lächerlichkeit und weist ihn als Basiswerkzeug des modernen Überlebens aus. Die Käfer im Zimmer werden farbig markiert und an der Wand zeigen sie dann die wahrhaftigsten Molekülketten. Und letztlich sind taktile Reize die letzte Grenze, die den Einen von der Außenwelt trennen. Amen. Dazu hört man dann eiskalte Interpol oder schwitzige QOTSA. Oder nur das rasselnde Atmen der Spione hinter der Tapete.

Vielleicht hat Clevenger bei irgendwem abgeschrieben, doch dieses Original ist hier unbekannt. Somit bleibt zu vermerken, dass diese läppischen 200 Seiten das inspirierendste Textvergnügen seit langem waren. Ähnlich wunderbar war kein geringeres Produkt als Clevengers Debüt, The Contortionist's Handbook. Recht so.

Hier zu erwerben.